Folgen Sie den Bodenmarkierungen in Form von Eisenbahnschienen entlang der 13. Stationen am Egon Schiele Weg.
1. Station: Bahnhof Tulln
Geburtshaus oder: Egon und die alten Dampfloks
Hier erfahren Sie: Wogegen Egon rebellierte. Warum er am Bahnsteig pfauchte und pfiff. Weshalb seine Kinderzeichnungen in Flammen aufgingen. Und wie der elterliche Salon zur Bahntrasse wurde.
Sommer 1890. Egon Leo Adolf Schiele kommt im Tullner Bahnhof zur Welt. Vater Adolf ist dort Vorsteher. Ein imposanter Mann in Uniform mit Degen und Federhut. Mutter Marie führt einen herrschaftlichen Haushalt. Doch Egon ist ein kleiner Rebell. Kaum aus den Windeln, greift er zum Griffel. Sein Lieblingsort: das Fensterbrett. Sein Lieblingsmotiv: der Bahnhof. Egon malt alles, was er sieht. Und imitiert alles, was er hört. Das Pfauchen der Dampflok. Den Pfiff des Zugführers. Der Zeichenblock wird ihm allerdings bald zu klein. Quer durch die Wohnung malt er Gleisanlagen, schmückt die Wände mit seinen Bildern. Bis die Eltern einschreiten. Und Egons Skizzen im Feuer landen.
2. Station: Beim Heisselgarten
Vaterliebe oder: Egon und der geheimnisvolle Besucher
Hier erfahren Sie: Wann Egon dem Tod begegnete. Weshalb er sich mit einem unsichtbaren Gast unterhielt. Wie wertvolle Eisenbahnaktien im Feuer landeten. Und warum die Familie Schiele den Tullner Bahnhof verlassen musste.
Schon früh hält der Tod Einzug in Egons Familie. 1893 stirbt Elvira, seine große Schwester. Drei Jahre ist er da alt. Spürt die Trauer der Eltern. Und das Gefühl des Verlassen-Werdens. Doch das bleibt nicht der einzige Schicksalsschlag. Beim geliebten Vater wird Syphilis diagnostiziert. Der korrekte Bahnhofsvorstand vernachlässigt plötzlich seine Pflichten. Ist verwirrt. Bewirtet einen imaginären Freund, den die Familie unterhalten muss. Dann bricht die Lues mit voller Wucht aus. Im Wahn verbrennt Adolf Schiele seine Eisenbahnaktien. Und damit das Familienvermögen. Sein Arbeitgeber enthebt ihn vom Dienst, kündigt ihm die Wohnung im Tullner Bahnhof. Vier Monate später erliegt er seinem Leiden. Da ist Egon gerade vierzehn Jahre alt.
3. Station: Alte Volksschule
Lehrjahre oder: Egon und das Notendebakel
Hier erfahren Sie: Was Egon unter der Schulbank trieb. Wer seine künstlerische Begabung erkannte. Weshalb er durchfiel, ohne durchzufallen. Und warum er für die Kunstgewerbeschule zu talentiert war.
Wozu mathematische Formeln büffeln, wenn man tausend Bilder im Kopf hat? Für Egon ist die Schule eine Qual. Zwei Jahre lang hat ein Hauslehrer Nachsehen mit dem jungen Zeichentalent. Doch in der Volksschule bekommt er schlechte Noten. Er malt, statt zu rechnen. Das ändert sich auch im Gymnasium nicht. Künstler will er werden. Und endet fast als Schulabbrecher. Seine Mutter umgarnt die Direktorin: Ein positives Abschlusszeugnis, wenn er dafür die Schule verlässt. Zwei Lehrer unterstützen seine Bewerbung an der Wiener Kunstgewerbeschule. Dann passiert das Undenkbare: Zu viel Talent! Man lehnt ihn ab. Und empfiehlt den Besuch der Akademie der bildenden Künste. Für junge Maler der Olymp. Für Egon der erste Schritt ins ersehnte Künstlerleben.
4. Station: Stadtpfarrkirche
Glaubenssache oder: Egon und das Aposteltor
Hier erfahren Sie: Was das Stadtbild von Tulln prägte. Warum zwölf Bischöfe im Volksmund zu Aposteln wurden. Was den Pfarrer empörte. Und wie sich Egon nach der Schule die Zeit vertrieb.
Hoch ragen die beiden mächtigen Türme der Stadtpfarrkirche über die Bürgerhäuser Tullns. Egons Vater ist katholisch. Ein wichtiger Mann in der Stadt. Da gehört ein Kirchenbesuch am Sonntag dazu. Wer St. Stephan über das Westportal betritt, wird von zwölf steinernen Augenpaaren beobachtet. Ein Dutzend Passauer Bischöfe schmücken als imposante Büsten die Pfeiler. Die Tullner nennen das Portal trotzdem das „Aposteltor“. Und glauben sich gut beschützt. Den Kindern fehlt freilich der Respekt vor dem geweihten Boden. Der Kirchenplatz wird zum Spielplatz. Was nützt es, wenn der Pfarrer sich empört? Dann laufen alle weg, mit fliegenden Röcken und klappernden Schulranzen. Egon ist selten dabei. Er treibt sich lieber auf dem Bahnhofsgelände herum. Zeichnet Züge und Automobile. Und träumt von der weiten Welt.
5. Station: Karner
Totengedenken oder: Egon und die Fabelwesen
Hier erfahren Sie: Warum die Tullner Gebeine exhumierten. Was Egon im Karner sah. Wie Tod und Vergänglichkeit auf die Leinwand kamen. Und welche Rolle das Sterben in Egons Leben spielte.
Friedhöfe haben etwas Unheimliches an sich. Noch unheimlicher sind Beinhäuser. Wie jenes im Karner von Tulln. Dort werden im Untergeschoss bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die exhumierten Gebeine der Toten aufbewahrt. Zu klein ist der Friedhof rund um die Pfarrkirche. Zu groß der Bedarf an leeren Gräbern. Das Obergeschoss des Karners ist eigentlich eine Friedhofskapelle. Die Darstellungen an den runden Wänden ziehen Egon in ihren Bann. Drachen. Dämonen. Fabelwesen. Der Tod ist hier allgegenwärtig. Wie auch in Egons Leben. Seine große Schwester stirbt, als er gerade drei ist. Mit vierzehn verliert er seinen geliebten Vater. Kein Wunder, dass Tod und Vergänglichkeit ihren Niederschlag in vielen Werken finden. Und schon früh zu einem zentralen Motiv in Egons Bilderwelt werden.
6. Station: Wiener Straße
Stadtausfahrt oder: Egon und die Pferdekutsche
Hier erfahren Sie: Wo man zur Jahrhundertwende flanierte. Wohin Egons Vater seine Familie kutschierte. Weshalb die Tullner heimlich tuschelten. Und warum der Bahnhofsvorstand zu den Honoratioren der Stadt zählte.
Damen im Sonntagsgewand. Herren im Überzieher. Die Wiener Straße mit ihren gutbürgerlichen Geschäften ist zur Jahrhundertwende Teil von Tullns Flaniermeile. Auch die Familie Schiele ist hier unterwegs. Allerdings nicht zu Fuß. Denn Vater Adolf hat Pferd und Wagen gekauft. Akkurat gestutzt ist sein Vollbart unter dem Hut mit dem üppigen Federbusch. Perfekt gewichst sind die Stiefel der Uniform, wenn er Frau und Kinder durch die Wiener Straße zum Hauptplatz kutschiert. Die Tullner mustern sie neugierig und tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Herablassend sei er, der Bahnhofsvorstand, und dünkelhaft seine Frau aus reichem Hause. Trotzdem grüßt man die Schieles. Schließlich bringt die Franz-Josefs-Bahn die moderne Welt nach Tulln.
7. Station: Hauptplatz
Marktplatz oder: Egon und die Standlerinnen
Hier erfahren Sie: Wohin die Tullner zum Einkaufen gingen. Was die Mägde zum Markt trugen. Wo Gotik und Barock aufeinandertrafen. Und woran die Dreifaltigkeitssäule auf dem Hauptplatz erinnern soll.
Damen im Sonntagsgewand. Herren im Überzieher. Die Wiener Straße mit ihren gutbürgerlichen Geschäften ist zur Jahrhundertwende Teil von Tullns Flaniermeile. Auch die Familie Schiele ist hier unterwegs. Allerdings nicht zu Fuß. Denn Vater Adolf hat Pferd und Wagen gekauft. Akkurat gestutzt ist sein Vollbart unter dem Hut mit dem üppigen Federbusch. Perfekt gewichst sind die Stiefel der Uniform, wenn er Frau und Kinder durch die Wiener Straße zum Hauptplatz kutschiert. Die Tullner mustern sie neugierig und tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Herablassend sei er, der Bahnhofsvorstand, und dünkelhaft seine Frau aus reichem Hause. Trotzdem grüßt man die Schieles. Schließlich bringt die Franz-Josefs-Bahn die moderne Welt nach Tulln.
8. Station: Minoritenkirche
Prachtentfaltung oder: Egon und der Märtyrer
Hier erfahren Sie: Wer den König von Böhmen erzürnte. Warum ein verschwiegener Beichtvater den Märtyrertod starb. Welche Geheimnisse das Seelenloch barg. Und was Egon mit Český Krumlov verband.
Ruhig ist es in den verwinkelten Seitengassen der Tullner Altstadt. Doch auf dem Hauptplatz spielt sich das Leben ab. Um 1900 ist noch jeden Tag Markttag. In aller Herrgottsfrüh werden Holzbuden aufgebaut. Hoch türmen sich frisches Obst und Gemüse. Die Standlerinnen, nicht mundfaul, preisen lautstark ihre Ware an. Als Erstes kommen die Mägde der feinen Familien. Wie jene der Schieles. Die Milchkanne in der Hand. Den großen Einkaufskorb am Arm. Später sind die Hausfrauen unterwegs. Die Männer vertreiben sich unterdessen am Vieh- und Schweinemarkt die Zeit. Mit dem Läuten der Schulglocke wird es noch einmal lebendig. Dann kommen die Volksschulkinder dahergelaufen. Und spielen Fangen rund um die Dreifaltigkeitssäule mitten auf dem Hauptplatz, die an die vielen Tullner Pestopfer im 17. Jahrhundert erinnern soll.
9. Station: Egon Schiele Museum
Kinderjahre oder: Egon und das Schaukelpferd
Hier erfahren Sie: Wieso Egon mit Puppen spielte. Was seine Mutter ihm aus Wien mitbrachte. Wie die Dampflok aufs Zeichenpapier kam. Und welche Bücher ihm sein Vater zu lesen gab.
Für einen Künstler ist die ganze Welt Inspiration. Auch wenn er noch in den Kinderschuhen steckt. Am Bahnhof von Tulln sind es die eisernen Dampfloks, die Egons Phantasie anregen. Schwarze Ungetüme, die dichte Rauchwolken in den Himmel stoßen. Vergoldete Ornamente und prachtvolle Üppigkeit dagegen in der Minoritenkirche. Und Geheimnisvolles, das jedes Kind fasziniert. Der Brückensturz des Heiligen Johannes Nepomuk in die Moldau. Weil er lieber schwieg als die Königin verriet. Die Nachbildung einer schwarzen Madonna. Versteckt hinter barocken Gittern. Und das Seelenloch in der Unterkirche, wo Mönche des Klosters ihre letzte Ruhestätte fanden. Genug mysteriöse Legenden und Impressionen, um selbst ein langes lateinisches Hochamt wie im Flug vergehen zu lassen.
10. Station: Wasserkreuz
Hochwasser oder: Egon und das hölzerne Kruzifix
Hier erfahren Sie: Warum die Tullner ihren Strom liebten und hassten. Wann Egon die Donau über ihre Ufer treten sah. Weshalb eine Wasserkapelle errichtet wurde. Und wo man der Toten aus dem Fluss gedachte.
So richtig „erfunden“ wird die Kindheit erst im 19. Jahrhundert. Davor gelten Kinder als kleine Erwachsene. Und als billige Arbeitskräfte. Egon hat Glück. Seine Familie ist wohlhabend. Er hat gemeinsam mit seinen Schwestern ein eigenes Zimmer in der weitläufigen Dienstwohnung seiner Eltern. Darf nach Herzenslust zeichnen. Und bekommt Spielzeug geschenkt. Ein großes Schaukelpferd. Einen Teddybären mit schwarzen Knopfaugen. Nicht einmal die Puppen der drei Schwestern sind vor ihm sicher. Sein Ein und Alles sind freilich die bunt bemalten Blechautos. Und die Eisenbahngarnituren, die ihm seine Mutter von ihren Wienbesuchen mitbringt. 40 Stück sind es. Mehr als jedes andere Kind in der Stadt besitzt. Doch wenn Egon Eisenbahnen malt, tut er es direkt in der Bahnhofshalle. Denn dort hat sein Vater das Sagen.
11. Station: Römerturm
Stadtgeschichte oder: Egon und die alten Römer
Hier erfahren Sie: Warum sich die alten Römer in Tulln ansiedelten. Wo die Handelsschiffe im Mittelalter vor Anker gingen. Was Egons Familie dem Kaiser verdankte. Und wie ein Flankenturm zum Salzlager wurde.
Die Donau hat zwei Gesichter: Sie ist Lebensader und Schicksalsstrom zugleich. Jahrhundertelang bringt das Wasser Besucher aus aller Herren Länder nach Tulln. Lässt die Stadt florieren: Römerlager. Flottenstützpunkt. Babenbergerresidenz. Handelsplatz. Doch immer wieder zerstören die Hochwasser Uferwege und Felder. Überschwemmen die Stadt. Vernichten wertvolles Hab und Gut. Zweimal wird Egon Zeuge der Verwüstungen: 1897 und 1899. Dann pilgern die Tullner zu ihrem Wasserkreuz. Seit 1729 steht es an der alten Stadtmauer. Wurde von Fischern und Schiffern verehrt und durch eine kleine Kapelle geschützt. Dort gedenkt man am Allerheiligentag der Toten aus der Donau. Und betet zum Wasserheiligen Johannes Nepomuk, dass die Stadt vom nächsten Eisstoß verschont bleibt.
12. Station: Römermuseum
Römerlatein oder: Egon und das kaiserliche Frauenstift
Hier erfahren Sie: Weshalb die Dominikanerinnen keine Geldsorgen hatten. Wo in Tulln der Irrsinn zuhause war. Warum Egons Vater vom Dienst enthoben wurde. Und wie das Römermuseum ins alte Kloster kam.
Eisen klappert, Männer brüllen, Pferde wiehern. Im Kastell Comagenis sind die römischen Soldaten allzeit bereit. Sie schützen den norischen Limes vor Barbareneinfällen. Die exponierte Lage direkt an einer Donaufurt macht Tulln zum strategischen Verkehrsknotenpunkt. Im ersten Jahrhundert nach Christus für die römischen Heerscharen. Im Mittelalter für Kaufleute aus dem Norden. Da nutzt man den Flankenturm des Kastells zur Sicherung des Landeplatzes für die Handelsboote. Zu Egons Schulzeiten gibt es schon die Kaiser-Franz-Josefs-Bahn. Schnelle Dampfloks ersetzen die langsamen Donauschiffe. Eine eiserne Bahn-Brücke spannt sich über den Fluss. Egons Vater wird als Bahnhofsvorstand der Bezirkshauptstadt zur Respektsperson. Und der alte Römerturm dient den Tullnern nur mehr als Zeughaus und Salzlager.
13. Station: Friedhof
Lebensbrüche oder: Egon und die zerbrochene Kette
Hier erfahren Sie: Was Egons Kindheit prägte. Weshalb er erst mit 8 Jahren in die Schule kam. Warum zuhause das Geld knapp wurde. Und wie er sich später selbst aus den Ketten der Konventionen befreite.
Gute Beziehungen haben sie, die edlen Fräuleins im kaiserlichen Frauenstift zu Tulln. 1280 wird das Dominikanerinnenkloster gegründet. Später erteilt ihnen Friedrich III. zahlreiche Privilegien. Geldsorgen gibt es nicht. Denn die Stiftsdamen bringen ihre Mitgift ein. Doch dann zerstört ein Brand Kloster und Kirche. Beim Wiederaufbau verschulden sich die Ordensfrauen. Kein Geld, kein Klosterleben. Zu Egons Zeiten ist hier ein Sanatorium untergebracht. Viele Patienten haben Wahnvorstellungen. „Dem Irrsinn verfallen“, sagen die Tullner. Wie Egons Vater, der an den Spätfolgen einer Syphiliserkrankung leidet. Achtzig Jahre nach Egons Tod wird das Frauenstift erneut umgewidmet. 2001 öffnet dort das Römermuseum seine Pforten: mit Funden aus Comagenis, dem ehemaligen Reiterkastell am Donauufer.