Wo die Zeiger stehenbleiben

Das in Kirchberg am Wagram gelegene Gut Oberstockstall ist ein magischer Ort. Zum weitläufigen Gelände gehören ein aus dem 12. Jahrhundert stammendes Gebäude, ein Marillenbaumgarten mit Schwimmteich, ein Alchemistenfund und ein Haubenrestaurant. Getrunken wird biodynamischer Wein aus eigener Herstellung. 

Wer das Ortszentrum von Kirchberg am Wagram hinter sich gelassen, die Alchemistenstraße bis zum Ende gefahren ist und durch das hohe Tor schreitet, findet sich in einem kopfsteingepflasterten Innenhof wieder, in dessen Mitte ein Nussbaum seinen Schatten wirft. Rechts befindet sich ein Verkaufs- und Verkostungsraum mit einer goldenen Klingel. Daran angrenzend ein der Mittagshitze trotzendes Gebäude mit dicken Steinwänden. Aus dem niedrigen Anbau daneben dringen Küchengeräusche, dann bellt Rhodesian Ridgeback Rusty einem Warenlieferanten nach. Kurz darauf ist es wieder, bis auf das Zirpen der Vögel, still. Gut Oberstockstall ist ein Ort so voller Historie, dass einem in manchen Momenten nur Ehrfurcht bleibt. Gleichzeitig ist es aber auch ein Ort, der Fremde willkommen heißt. Jene, die nur zum Weinkaufen kommen ebenso wie Restaurantgäste oder jene, die über Nacht bleiben wollen. Ob ein:e Schöpfer:in wohl an diesen Ort dachte, als er oder sie das Paradies erschuf? Wie zur Erinnerung läutet die Kapellglocke.

Birgit und Fritz Salomon

Die Natur lässt sich nicht in ein Schema pressen.

Fritz und Birgit Salomon

Erstmals urkundlich erwähnt wurde das Anwesen 1150. 1869 übernahm es der Ur-Urgroßvater des heutigen Besitzers. Bewohnbar gemacht wurde es allerdings erst in den 1970ern. Noch mal rund zwanzig Jahre später übernahm Fritz Salomon. Entgegen dem familiären Rat entschied er sich, auch weiterhin Bioweinbau und Biolandwirtschaft zu betreiben. Letztere macht neunzig Hektar aus, darunter Weizen, Soja und Mais für die Lebensmittelindustrie, aber auch, eine Besonderheit in der Region, Quinoa, der hier Queenoa heißt. Schafe gibt es und schneeweiße Rinder der Rasse Waldviertler Blondvieh. Drei Hektar sind zudem an einen Gemüsebauern verpachtet, der ganzjährig Produkte für das zum Gut gehörende Haubenrestaurant liefert, für Gerichte wie Alpsaibling mit Safran und Queenoa oder Brennnessel mit zweierlei Kohlrabi und Schaffrischkäse. Gastgeber sind Fritz‘ Bruder Matthias und dessen Frau Elke. Spätestens jetzt dürfte klar sein, dass es sich um einen echten Familienbetrieb handelt.  
Fritz‘ Ehefrau Birgit, deren grau-braun-melierte Haare zu einem Dutt hochgesteckt sind, kümmert sich um die sieben auffallend geschmackvollen Gästezimmer. Fünf davon befinden sich im auf das 15. Jahrhundert datierte Haupthaus. Spitzbögen, massive Holztüren, barocke Möbel und stuckverzierte Gewölbe können schnell überfordernd wirken, nicht so hier, wo der Spagat zwischen skandinavischem Minimalismus und historischer Gemütlichkeit gelingt. Das Frühstück mit vielen hausgemachten Produkten wird im ebenerdig gelegenen Tonnengewölbe serviert. Hausgäste dürfen sich frei auf dem drei Hektar großen Gelände bewegen. Dazu gehört ein betörend blühender Garten, wo Holzliegen zum Nichtstun einladen und an dessen Kirschbäumen man sich gerne bedienen darf. Nicht zu vergessen der fünfundzwanzig Meter lange, von Wildblumen umwachsene, in den Lehmboden gegrabene Schwimmteich. Wer dort seine Bahnen zieht, hat die Kapelle ebenso im Blick wie das dahinterliegende Wirtschaftsgebäude. 

Unter dem Innenhof befindet sich der aus dem 14. Jahrhundert stammende Weinkeller, während die auf Lössboden gepflanzten Weingärten in wenigen Gehminuten erreichbar sind. In der Naturweinszene ist Gut Oberstockstall ein klingender Name. „Schon als wir uns 1996 kennenlernten, fragte ich mich, warum Fritz‘ Weine so anders schmecken“, berichtet seine von einer Biolandwirtschaft im nahen Stetteldorf stammende Frau. Es stellte sich heraus, dass ihr Partner dem Wein nach einer Spontanvergärung nichts mit auf den Weg gibt außer Zeit. „Das macht ihn lebendig, spannend, ohne unzugänglich zu sein. Die Natur lässt sich nicht in ein Schema pressen.“ Seit 2006 sind die Weine Demeter-zertifiziert, bei der Umstellung half das Wissen befreundeter Winzer:innen und jenes alter Bücher. Rund die Hälfte des Ertrags geht in den Export. „In Japan bedanken sich die Menschen dafür, wie respektvoll wir mit der Natur umgehen, während sie hierzulande fragen, warum der Wein so eine komische Farbe hat“, seufzt Fritz, während er eine kurze Pause auf den unter dem Nussbaum platzierten Gartensesseln einlegt. Bei seiner Arbeit vertraut er auf sein Gewissen, das ihn daran erinnert, dass es noch eine Generation nach ihm gibt. Vier Kinder hat das Paar, wobei eine Tochter bereits im Betrieb mitarbeitet und ein Sohn die Weinbaufachschule abgeschlossen hat.  

Einen Alchemistenfund gibt es auf Gut Oberstockstall übrigens auch zu entdecken, mit rund tausend Objekten ist er der bedeutendste mittelalterliche weltweit. Entdeckt hat ihn der junge Fritz beim Spielen in der Sakristei. Egal ob im Garten, den Zimmern, dem Restauranttisch oder unter dem Nussbaum sitzend: Hier möchte man bleiben und die Zeit vergessen. Die Uhrzeiger der Kapelle sind übrigens bei 4:37 stehengeblieben.