Wage stets, du selbst zu sein

Es ist bequem, bekannten Pfaden zu folgen, die Bedingungen der Donauregion machen es ihren Bewohner:innen leicht. Manche entscheiden sich dennoch für einen anderen Weg. Eine Spurensuche von Ost nach West. 

„Folge nicht dem bekannten Pfad. Gehe dorthin, wo es noch keinen Pfad gibt, und hinterlasse eine Spur.“ Das empfahl der im 19. Jahrhundert lebende Philosoph Ralph Waldo Emerson. In der Donauregion war der Amerikaner wohl nie, obwohl sie gut zu seinen Überlegungen gepasst hätte. Angesichts landschaftlicher und landwirtschaftlicher Vielfalt sowie günstigen klimatischen Voraussetzungen lässt es sich auf bekanntem Terrain gut wandeln. Manche Bewohner:innen der Donauregion suchen dennoch unentdeckte Pfade. 

Große Winzerinnen und frische Ideen

Im nördlich der Donau gelegenen Marchfeld kann der Blick ungebrochen in die Weite schweifen. Spargel-, Zwiebel- und Kornfelder werden abgelöst von Mohn- und Kornblumenwiesen, Windräder nutzen die Energie der Natur. Kraft steckt auch in den fruchtbaren Böden, welche schon seit Jahrhunderten für den Anbau von Korn und Kraut genutzt werden. Schade, dass sie stumm sind, sonst könnten sie Geschichten von jener Zeit erzählen, als dort noch die Ur-Donau floss, oder als sich im ersten Jahrhundert nach Christus die Römer diese wilde Landschaft zu eigen machten, mit Carnuntum, der Hauptstadt der römischen Provinz Oberpannonien als zentralem Handels- und Militärstützpunkt. 

So sehr im Marchfeld das Gemüse die Hauptrolle spielt, bereitet das südlich der Donau gelegene Carnuntum dem Wein die große Bühne. Hier ist der Anteil an Winzerinnen erfreulich hoch. Frauen wie Johanna Markowitsch, Michaela Riedmüller, Hanna Glatzer, Karoline Taferner oder Stefanie Böheim gehen mit Mut und frischen Ideen ihren Weg.

Für die Höfleinerin Victoria Gottschuly-Grassl gibt es kaum einen lebenswerteren Landstrich als jenen zwischen der Bundeshauptstadt Wien und der Slowakei. „Mein Urlaub findet größtenteils in den Weinbergen statt.“ Statt einer Meeresbrise spürt sie jenen Fluss, welcher die Region nicht nur durch seinen Namen prägt. „Die Donau bringt ein kontinentales Klima mit heißen Tagen und kühlen Nächten mit sich. Sie zu fühlen ist leicht, den Luftstrom, die vor allem im Sommer angenehme Brise.“ Vor allem durch die zwischen Alpen und Karpaten liegende Brucker Pforte weht ein stetiger Wind. Dass dadurch von Regen und Tau nass gewordene Weintrauben schneller trocknen, ist eine weitere Erklärung für die Menge an Weltklasseweinen, die hier entstehen. 

Im Einklang mit der Natur

Wer nach Höflein weiter Richtung Westen unterwegs ist und die Donau quert, dem sei ein Schlenker zu den Marchfeldschlössern empfohlen, etwa nach Schloss Eckartsau oder Schloss Orth mit ihren im englischen Barockstil angelegten Parks. Die Hauptstadt vorbeiziehen lassend, wird die flache Ebene allmählich hügliger und man erspäht in der Ferne das von Dunst umgebene Bergmassiv Ötscher. Hier im Wagram bieten nährstoffreiche Lössböden beste Voraussetzungen für qualitätsreiche Landwirtschaft. Die Fischzucht spielt ebenso wie der Obstbau eine Rolle, Weizen wächst dort genauso wie Soja, Mais – und Quinoa. Für dessen Anbau haben sich Birgit und Fritz Salomon entschieden, eine Pionierleistung in ihrer Heimatregion. Davon, dass sie sich nicht von querliegenden Meinungen irritieren lassen, zeugt auch die Winzerarbeit des Kirchberger Paares. Schafe als Rasenmäher, Dammkulturen gegen Unkraut: Die Weine von Gut Oberstockstall entstehen im Einklang mit der Natur, wofür es im fernen Japan überschwängliches Lob gibt, während sich in der unmittelbaren Umgebung manche fragen, „warum der Wein so eine trübe Farbe hat“, wie Fritz halb lachend, halb kopfschüttelnd bemerkt. Lössböden sind die ideale Grundlage, weil sie in Zeiten des Überflusses dankbar Wasser aufnehmen, um es in Trockenperioden wieder abzugeben.

Ein bisschen verrückt ist völlig normal

Und wieder wechseln wir das Ufer, bewegen uns auf der Donau-Südseite stromaufwärts, passieren das sandfarben leuchtende Stift Göttweig sowie die Ausläufer des Dunkelsteinerwaldes und sehen zu, wie die von Steinmauern durchzogenen Weinhänge steiler werden. 

Wirtschaftlich geprägt wurde die Gegend lange Zeit von der Schifffahrt. Noch heute erinnern hölzerne Figuren an die entsprechenden Schutzpatrone. Salz, Gewürze und Wein wurden flussaufwärts bis ins bayerische Freising verschickt, im Austausch unter anderem gegen Bier. Dass sich ein Winzer jetzt dessen Herstellung verschreibt, mutet mehr als ungewöhnlich an. Von Widerständen hat Christoph Hoch sich noch nie unterkriegen lassen, damals nicht, als er, entgegen des großväterlichen Rats, von Stahl- auf Holzfässer und von herkömmlicher Bewirtschaftung auf Unterstockbegrünung umgestiegen ist – etwas, das heute, zehn Jahre später, „alle machen“, wie Christoph nicht ohne Stolz bemerkt –, auch nicht, als er für die Prinzipien der Biodynamik bloß Unverständnis erntete. In seinen eigenen Worten: „Obwohl ich mir wieder und wieder die Zähne ausgebissen habe, blieb mein emotionaler Motor nicht stehen.“ Große Weine zu machen war stets sein Ziel, die Gärten rund um seinen Heimatort Hollenburg liefern die nötigen Voraussetzungen. Große Weine heißt in seinem Fall: Schaumweine in Champagnermanier. Jetzt also zusätzlich Bier, und zwar ebenfalls auf ungewöhnliche Art, getreu jenem Satz, der an Christophs Wohnhaus steht: Ein bisschen verrückt ist völlig normal.

Charaktere entdecken

Bekannte Pfade zu verlassen erfordert Mut, gegen den Strom zu schwimmen verlangt Kraft. All jene, welche diese Aufgabe auf sich nehmen, können sicher sein, Spuren zu hinterlassen. So, wie sich die Donau über die Zeit hinweg ihren Weg gebahnt hat, werden möglicherweise auch diese neuen Pfade irgendwann die althergebrachten ablösen – oder gleichbedeutend neben diesen bestehen, weil es immer schön ist, die Wahlmöglichkeit zu haben.