Alles fließt

Eigentlich könnten sich die Bewohner:innen der Donauregion vertrauensvoll zurücklehnen und auf den Lauf des zweitlängsten europäischen Flusses vertrauen. Innovation hat dennoch ihren Platz. 

Es gibt viele Menschen, die schlaue Dinge über Flüsse gesagt haben. Der schönste Satz kommt von Rainer Maria Rilke: „Lass dir Zeit, alles ist im Fluss.“ Zeit haben, sich Zeit nehmen, dafür ist die Donauregion ein guter Ort. Kein Fluss der Welt durchquert mehr Länder. Traditionsbewusstsein zeichnet diejenigen aus, die an seinen Ufern leben. Sie lassen der Zeit genau wie der Strömung ihren Lauf, ehren die Vergangenheit, ohne sich der Zukunft zu versperren. Stehen neuen Entwicklungen offen gegenüber, ohne das Bewährte zu verraten. 

From the Beginning ...

Zum Beispiel im Nibelungengau, dem Abschnitt der Donau zwischen Ybbs und Melk. Dort, im Wallfahrtsort Maria Taferl, dem bedeutendsten Niederösterreichs, gelegen auf rund 440 Höhenmetern, mit Panoramaausblick auf die sich sanft durchs Tal schiebende Donau, lädt die romantische Landschaft zum Wandern, Spazieren oder einfach In-Sich-Gekehrt-Sein ein. Anschließend sollte der Weg in ein Wirtshaus führen, wo sich bestenfalls das vereint, was die Region ausmacht, Altes und Neues, Tradition und Moderne. Andreas Frey, der im Wirtshaus Zum Goldenen Löwen immer einen Platz am Stammtisch frei hat, aber auch vegane Gerichte anbietet, durchquert in seiner Freizeit gerne die Steinbachklamm, die Maria Taferl mit Marbach verbindet, immer am Wasser entlang, mit Steinen und duftendem Moos unter den Füßen. Von dort führt unser Weg entlang des Flusses gen Osten, vorbei am Stift Melk, auch bekannt als Tor zur Wachau. Immer wieder ziehen sattgrüne Donauauen vorbei. Deren fruchtbarer Schwemmlandboden eignet sich besonders gut für den Obst- und Weinbau – oder zum Baden. Mild ist das Klima, bisweilen beinahe mediterran. 

Auch architektonisch weiß die Wachau zu gefallen. Angefangen bei dem über der Donau thronenden Schloss Schönbühel, über jene aus dem 12. Jahrhundert stammende Burgruine Dürnstein, wo dereinst Richard Löwenherz gefangen gehalten wurde, bis hin zum barocken Benediktinerkloster Stift Göttweig. Ein Gegenpol sind hochmoderne Bauten wie das in Vießling bei Spitz an der Donau gelegene Weingut Högl, das einen Dialog mit den dahinterliegenden Steinterrassen eingeht, oder die in Krems gelegene Landesgalerie Niederösterreich, mit ihrer aufsehenerregenden Achsendrehung. Jedes am Weg liegende Dorf liefert mit seinen prunkvollen Kirchen und behutsam restaurierten Gebäuden einen Grund zum Anhalten. Weitere Argumente sind die unzähligen Heurigen, von bodenständig bis mondän, viele davon mit fantastischem Blick auf steil aufragende Weinberge und das Donautal. Und wer wäre man, sich die wohl berühmteste Spezialität der Region, mal abgesehen vom Wein, entgehen zu lassen? Dabei ist die Marille streng genommen eine Zugewanderte, stammt sie doch ursprünglich aus Zentralasien. Somit aber auch ein erneuter Beweis für die Offenherzigkeit dieser Region. Ihren landwirtschaftlichen Reichtum hat sie vor allem jenem Fluss zu verdanken, der als ihre Lebensader gilt. Bereits in der Antike verband die Donau als Handelsroute das gesamte Römische Reich.

Gefühl von Leichtigkeit

Je weiter der Weg von der Wachau in Richtung Wagram führt, desto mehr flachen die Hänge ab. Direkt nach Krems, einer der ältesten Städte des Landes, öffnet sich die Ebene, wird die Weite spürbar, geht der Blick bis zu den hohen Bergen des Mostviertels und den Wiener Alpen. Jetzt hat der Wagram seinen großen Auftritt, dessen Lössböden ideale Voraussetzung bilden für Spitzen-Grünen und Frühroten Veltliner. Die Donau indes gräbt sich weiterhin geruhsam durch die Landschaft wie bereits im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, als auf ihr von Tulln aus Waren gen Osten verschifft wurden. Heute sind es eher Ausflügler:innen, die sich mitreißen lassen vom mal sanften, mal energischen Strom, mit Rückenwind und einem Gefühl von Leichtigkeit.

Josef Floh, genannt Floh, ist der beste Beweis dafür, was passieren kann, wenn man die Dinge fließen lässt: viel Gutes. Sein mit „jugendlichem Leichtsinn“ von der Mutter übernommenes Gasthaus ist einer der innovativsten Betriebe des Landes. Ein Freigeist ist er, aber kein Radikaler, und somit ein typischer Vertreter des südlich der Donau gelegenen Tullner Beckens. Mit Kritiker:innen verhält es sich dabei wie mit Treibgut: Manche verliert man, manche gewinnt man. Obwohl er in Langenlebarn aufgewachsen ist, will er „das Wort Heimat nicht in den Mund nehmen“ – zu vorbelastet. Immer mal wieder ist er ausgeschwärmt, um in der Ferne festzustellen, wie schön es in der H…, Pardon, im Tullnerfeld ist. „Für mich hat die Donau eine magische Anziehungskraft. Wenn ich von meinem Bett aus einen Blick auf sie werfe ebenso, wie wenn ich auf einem kurzen Umweg zur Gastwirtschaft Halt an ihrem Ufer mache.“ Kraft und Energie bekommt Josef auf diese Weise.

Dem jahrtausendealten, nährstoffreichen Boden sei Dank: Viele herausragende Gemüseproduzent:innen und Marktgärtnereien säumen die Route von Krems nach Wien. Krautwerk, Bauer Michi, Dirndln am Feld und Eveline Bach sind weit über die niederösterreichischen Grenzen hinaus klingende Namen. 
 

Tor zur Antike

Weiter flussabwärts ändert sich die Landschaft ein weiteres Mal. Das Carnuntum, am Südufer der Donau, gehört zu Österreichs kleinsten, dabei hochdynamischen Weinbaugebieten. Lehm- und Lössböden wechseln sich mit sandig-schottrigen Lagen ab. Ruhig und entschleunigend ist die Landschaft, reich die Flora und Fauna des Nationalparks Donau-Auen. Menschengemacht ist hingegen die Römerstadt Carnuntum. Bei diesem „Tor zur Antike“ handelt es sich um ein aufwendig rekonstruiertes römisches Stadtviertel, samt originalgetreu ausgestatteter Wohnhäuser und einer funktionstüchtigen Therme. Von Petronell-Carnuntum führt der Weg über die Donau nach Engelhartstetten, zu Schloss Niederweiden und Schloss Hof. Letzteres ist von den sechs Marchfeldschlössern das größte. Weitere finden sich in den Orten Orth, Marchegg und Eckartsau. Manche dieser Bauten dienten als Jagdschloss oder Sommersitz, andere als landwirtschaftliche Großbetriebe. Allesamt wurden sie im 17. und 18. Jahrhundert im barocken Stil errichtet, umgeben von pittoresken Gartenanlagen. 

Ausgedehnt liegen die Felder auf der zwischen Wien und Bratislava gelegenen, größten österreichischen Ebene. Nicht von ungefähr kam das Marchfeld, nördlich der Donau, zu seinem Beinamen „Kornkammer Österreichs“. Bereits in prähistorischen Zeiten betrieben Menschen hier Ackerbau. Heute erstrecken sich auf rund 900 Quadratkilometern weitläufige Äcker, Wiesen und Felder. Dort wachsen Zwiebeln, Karotten, Spinat, Kürbisse, Kraut – und Erdbeeren. Altmodisch nennt Karin Unger ihre Art des Anbaus und meint damit: sonnengereift. Weil die Böden des Marchfelds so fruchtbar sind und das Klima mit geringem Niederschlag und vielen Sonnenstunden so günstig, fällt es leicht, sich auf die Natur zu verlassen. Um ihren Spargel beneidet die Region das ganze Land, aber auch die in Karin Ungers Bauernspeis verkauften Erdbeeren setzen Maßstäbe. Altmodisch könnte man die Art und Weise nennen, mit der die Bewohner:innen der Region die sie umgebende Natur behandeln, nämlich respektvoll und so, wie es sich immer schon als gut erwies. Nachhaltige Landwirtschaft und traditionelle Anbaumethoden sind hier so selbstverständlich wie die von der Donau herüberwehende Brise. Was nicht heißt, dass man sich der Zukunft versperrt. So werden aufgrund sich verändernder klimatischer Bedingungen in Mannsdorf jetzt Melonen angebaut, also ganz im Geiste der Region: Bewährtes bewahren und gleichzeitig die Gunst der Stunde nutzen. Und sich dabei, ganz im Sinne Rilkes, nicht aus der Ruhe bringen lassen. 

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